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Türkei: Gulen entführen oder mit Drohne töten?

28. Juli 2016

Hätte die Türkei das Recht, den Türkischen Geistlichen in Pennsylvania zu entführen oder mit einer Drohne zu töten?


(Dieser Artikel wurde von Glenn Greenwald geschrieben und ist ursprünglich auf “The Intercept” erschienen. acTVism Munich hat diesen Text sinngemäß ins Deutsche übertragen.)


Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan weist Fetullah Gulen, einem islamischen Prediger und ehemaligen Verbündeten, der heute mit einer Green Card in Pennsylvania wohnt, die Schuld für den missglückten Putschversuch zu. Erdogan fordert von den USA, Gulen auszuliefern, und beruft sich dabei auf vorangegangene Auslieferungen von Terrorverdächtigen der türkischen Regierung auf Forderung der Vereinigten Staaten: „Nun fordern wir, dass ihr diesen Typen ausliefert, der auf unserer Terroristenliste ist.“ Erdogan fordert schon seit mindestens zwei Jahren Gulens Auslieferung aus den USA, weil er die türkische Regierung von seinem Zufluchtsort in den Vereinigten Staaten aus zu unterwandern versuche. Bisher lehnen die USA dies ab und Außenminister John Kerry verlangt von der Türkei: „Zeigt uns die Beweise, zeigt uns die Beweise. Wir benötigen eine solide Rechtsgrundlage, die den Auslieferungsstandards entspricht.“

Angesichts der Tatsache, dass sich jemand, den die türkische Regierung als „Terroristen“ und eine direkte Bedrohung der nationalen Sicherheit bezeichnet, auf US-amerikanischem Boden befindet – hätte die Türkei das Recht, eine bewaffnete Drohne nach Pennsylvania zu schicken, um Gulen zu finden und zu töten, oder Geheimagenten für seine Entführung zu senden, falls die USA sich weiterhin weigern, ihn auszuliefern? Diese Frage wurde gestern von Col. Morris Daves gestellt, dem Chefankläger der Guantánamo Militärkommission, der aus Protest über die durch Folter errungenen Beweismittel sein Amt niederlegte:

Übersetzung Tweet : Wenn Fetulah Gulen als Bedrohung für Erdogan und die türkische Regierung angesehen wird, hat die Türkei dann nicht das Recht, ihn in Pennsylvania mit einer Drohne anzugreifen? @CNN

Diese Frage gründet sich natürlich auf die Tatsache, dass die USA genau das seit vielen Jahren tun: Mit vielerlei Mitteln – auch, aber nicht nur mit Drohnen – entführen und töten sie Menschen in zahlreichen Ländern, die unilateral (ohne ein Gerichtsverfahren) als „Terroristen“ festgelegt worden sind oder auf irgendeine andere Art und Weise eine vermeintliche Bedrohung für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten sind. Weil es natürlich nicht sein kann, dass die USA gesetzliche Rechte besitzen, die allen anderen Ländern verwehrt bleiben – nicht wahr? –  stellt sich natürlich die Frage, ob die türkische Regierung dazu berechtigt wäre, jemanden zu entführen und zu töten, den sie als Terroristen betrachtet, wenn die USA ihm Zuflucht gewähren und sich weigern, ihn auszuliefern.

Der einzig realistische Einwand gegen den Anspruch der Türkei, dieses Recht geltend zu machen, wäre es, zu behaupten, dass die USA ihre Operationen auf Orte einschränken, in denen Gesetzlosigkeit vorherrscht, was auf Pennsylvania nicht zutrifft. Diese Beschreibung des amerikanischen Geltungsanspruches ist jedoch unzutreffend. Als die USA Afghanistan nach dem 11. September mit Bombardierung und einer Invasion drohten, sofern sie nicht sofort Osama bin Laden aushändigten, war die Antwort der Taliban jener der USA an die Türkei in Bezug auf Gulen tatsächlich verblüffend ähnlich:

„Die regierenden Taliban in Afghanistan haben den Status von Osama bin Laden heute noch weiter verkompliziert und das Ultimatum der Vereinigten Staaten abgelehnt, ihn und seine Leutnante auszuliefern, um für ihre mutmaßliche Rolle in den Terroranschlägen der letzten Woche in den Vereinigten Staaten Rede und Antwort zu stehen.

Der Botschafter der Taliban in Pakistan, Mullah Abdul Salam Zaeef, meinte bei einer Pressekonferenz in Islamabad: ‚Unsere Position in dieser Hinsicht ist, dass die Amerikaner Beweise vorbringen sollen, wenn sie welche haben. ‘ Wenn sie ihre Anschuldigungen beweisen können, meinte er, ‚sind wir bereit, für ein Gerichtsverfahren von Osama bin Laden. ‘

Auf die Frage, ob Herr bin Laden ausgeliefert werden würde, antwortete der Botschafter: ‚Ohne Zweifel, nein.‘“

Die USA weigerten sich, solche Beweise vorzubringen – „Diese Forderungen stehen nicht zur Verhandlung oder zur Debatte,“ meinte Präsident George W. Bush damals – und die Invasion und Bombardierung Afghanistans begann zwei Wochen später und dauert bis zum heutigen Tag, 15 Jahre später, an. Die Rechtfertigung dabei war nicht etwa, dass die Taliban unfähig wären, bin Laden festzunehmen und auszuliefern, sondern dass sie sich weigerten, dies zu tun, ohne dass Beweise seiner Schuld vorgebracht und gesetzliche und gerichtliche Schritte eingeleitet wurden.

Diese Vorgehensweise der USA gegen individuelle Terrorverdächtige sind zudem auch nicht auf Länder beschränkt, in denen Gesetzlosigkeit herrscht. 2003 entführte die CIA einen Geistlichen auf den Straßen von Mailand in Italien und brachte ihn nach Ägypten, wo er gefoltert wurde (die beteiligten CIA Agenten wurden in Italien strafrechtlich verfolgt, die USA verteidigten sie jedoch vehement). 2004 entführten die USA einen deutschen Staatsbürger in Mazedonien, flogen ihn nach Afghanistan, wo sie ihn folterten und unter Drogen setzten, und setzten ihn kurzerhand wieder auf der Straße aus, als sie sich seiner Unschuld bewusst wurden; seither weigern sich die USA, ihn zu entschädigen oder sich zumindest zu entschuldigen, während sein Leben in Scherben liegt. Die USA haben wiederholt Menschen in Pakistan mit Drohnen und anderen Angriffen getötet, inklusive Angriffen, bei denen sie nicht einmal ansatzweise wussten, wen sie gerade töteten, und ein Lager in Abbottabad gestürmt – wo die Pakistanische Regierung volle Regierungsmacht besitzt – um Osama bin Laden im Jahr 2010 zu töten.

Amerikanische Drohnentötungen von Terrorverdächtigen (inklusive der eigenen Staatsbürger) sind bei Amerikanern besonders beliebt, inklusive jeder (im Obama-Zeitalter), die sich selbst als liberale Demokraten identifizieren. Dennoch kann mit nahezu absoluter Sicherheit gesagt werden, dass Amerikaner des gesamten ideologischen Spektrums in nationalistische Entrüstung ausbrechen würden, wenn die Türkei auf dieselbe Art und Weise in Pennsylvania vorgehen würde; die Konsequenzen eines solchen Vorgehens für die Türkei ließen sich wohl nur schwerlich übertreiben.

Dies ist amerikanischer Exzeptionalismus in seiner pursten Form: Die USA sind nicht an dieselben Regeln und Gesetze wie andere Nationen gebunden, sondern haben stattdessen, verankert in ihrer übergeordneten Stellung, das Recht, auf eine Art und Weise Macht und Vergeltung auszuüben, die einzigartig ist und nur für sie gilt. Diese Pathologie sitzt in der Tat so tief, dass schon der einfache Vorschlag, dass die USA sich an dieselben Regeln und Gesetze wie alle anderen halten sollten, unausweichlich zu den entrüsteten Anschuldigungen führt, dass die größte Sünde aller begangen wurde: Die Vereinigten Staaten von Amerika mit den unbedeutenderen, unterlegenen Regierungen und Ländern der Welt zu vergleichen.


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1 Antwort auf „Türkei: Gulen entführen oder mit Drohne töten?“

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