Chomsky: Ohne US Hilfe würde Israel nicht massenhaft Palästinenser töten
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Truthout am 12. Mai 2021. Wir haben uns entschieden, ihn heute zu übersetzen und neu zu veröffentlichen, um die Meinungsvielfalt auf lokaler Ebene zu fördern.
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Seit Jahren versuchen aufeinanderfolgende israelische Regierungen, Palästinenser aus der Heiligen Stadt Jerusalem zu vertreiben, wobei die jüngste Reihe israelischer Angriffe genau dieser Absicht entspricht. Um jedoch die Wurzeln der aktuellen Eskalation – und die mögliche Bedrohung eines ausgewachsenen Krieges – zu verstehen, muss die von den USA unterstützte, grundlegende Politik der israelischen Regierung untersucht werden, die Strategien des “Terrors und der Vertreibung” einsetzt, um ihr Territorium durch das Töten und Vertreiben von Palästinensern zu erweitern, sagt Noam Chomsky in diesem exklusiven Interview für Truthout. Chomsky – ein preisgekrönter Professor für Linguistik an der Universität von Arizona und emeritierter Institutsprofessor am MIT – ist international als einer der fähigsten Analysten des israelisch-palästinensischen Konflikts und der Nahostpolitik im Allgemeinen anerkannt und eine führende Stimme im Kampf für die Befreiung Palästinas. Zu seinen zahlreichen Schriften zu diesem Thema gehören Offene Wunde Nahost: Israel, die Palästinenser und die US- Politik; Gaza in Crisis: Reflections on Israel’s War Against the Palestinians; und On Palestine.
C.J. Polychroniou: Noam Chomsky, ich möchte Sie zunächst bitten, den israelischen Angriff auf Palästinenser in der al-Aqsa-Moschee inmitten von Räumungsprotesten und dann die jüngsten Luftangriffe in Gaza in einen Kontext zu bringen. Was ist neu, was ist alt, und inwieweit steht diese jüngste Welle neokolonialer israelischer Gewalt im Zusammenhang mit Trumps Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem.
Noam Chomsky: Es gibt immer wieder neue Entwicklungen, aber im Grunde ist die Geschichte alt. Sie reicht über ein Jahrhundert zurück und nahm nach den israelischen Eroberungen von 1967 und der Entscheidung beider großer politischer Gruppierungen vor 50 Jahren, die Expansion wichtiger als die Sicherheit und die diplomatische Einigung zu nehmen, neue Formen an – in der Erwartung, dass die USA dabei entscheidende materielle und diplomatische Unterstützung leisten (und erhalten).
Für das, was die dominierende Tendenz in der zionistischen Bewegung wurde, gab es ein festes langfristiges Ziel. Grob gesagt besteht das Ziel darin, das Land von den Palästinensern zu befreien und sie durch jüdische Siedler zu ersetzen, die als “rechtmäßige Besitzer des Landes” nach Jahrtausenden des Exils heimkehren.
Zu Beginn betrachteten die Briten, die damals zuständig waren, dieses Projekt im Allgemeinen als gerecht. Lord Balfour, Autor der Deklaration, die den Juden eine “nationale Heimat” in Palästina gewährte, fasste das ethische Urteil der westlichen Elite recht gut zusammen, indem er erklärte, dass “der Zionismus, ob er nun richtig oder falsch, gut oder schlecht ist, in einer jahrhundertealten Tradition, in gegenwärtigen Bedürfnissen und in zukünftigen Hoffnungen verwurzelt ist, die von weitaus größerer Bedeutung sind als die Wünsche und Vorurteile der 700.000 Araber, die jetzt dieses alte Land bewohnen.”
Die Gefühle sind nicht unvertraut.
Die zionistische Politik ist seitdem opportunistisch. Wenn es möglich ist, wendet die israelische Regierung – und in der Tat die gesamte zionistische Bewegung – Strategien des Terrors und der Vertreibung an. Wenn die Umstände das nicht zulassen, bedient sie sich milderer Methoden. Vor einem Jahrhundert bestand das Mittel darin, still und leise einen Wachturm und einen Zaun zu errichten, woraus dann bald eine Siedlung wurde, Fakten auf dem Boden. Heute besteht das Gegenstück in der Vertreibung von noch mehr palästinensischen Familien aus den Häusern, in denen sie seit Generationen leben, durch den israelischen Staat – mit einer Geste der Legalität, um das Gewissen derer zu beruhigen, die in Israel als “schöne Seelen” verhöhnt werden. Natürlich sind die meist absurden legalistischen Vorwände für die Vertreibung der Palästinenser (osmanische Landgesetze und dergleichen) zu 100 Prozent rassistisch. Es wird nicht daran gedacht, den Palästinensern das Recht zu gewähren, in ihre Häuser zurückzukehren, aus denen sie vertrieben wurden, oder gar das Recht, auf dem Land zu bauen, das ihnen geblieben ist.
Die israelischen Eroberungen von 1967 machten es möglich, ähnliche Maßnahmen auf die eroberten Gebiete auszudehnen, in diesem Fall unter grober Verletzung des Völkerrechts, wie die israelische Führung sofort von ihren höchsten juristischen Instanzen informiert wurde. Erleichtert wurden die neuen Vorhaben durch den radikalen Wandel in den amerikanisch-israelischen Beziehungen. Vor 1967 waren die Beziehungen im Allgemeinen herzlich, aber ambivalent. Nach dem Krieg erreichten sie ein nie dagewesenes Ausmaß an Unterstützung für einen Satellitenstaat.
Der israelische Sieg war ein großes Geschenk für die US-Regierung. Ein Stellvertreterkrieg war im Gange zwischen dem radikalen Islam (mit Sitz in Saudi-Arabien) und dem säkularen Nationalismus (Nassers Ägypten). Wie Großbritannien zuvor, neigten die USA dazu, den radikalen Islam zu bevorzugen, den sie als weniger bedrohlich für die imperiale Vorherrschaft der USA ansahen. Israel zerschlug den arabischen säkularen Nationalismus.
Israels militärisches Können hatte die US-Militärführung bereits 1948 beeindruckt, und der Sieg von 1967 machte deutlich, dass ein militarisierter israelischer Staat eine solide Basis für die US-Macht in der Region sein könnte – und darüber hinaus wichtige sekundäre Dienste zur Unterstützung der imperialen Ziele der USA leistete. Die regionale Dominanz der USA stützte sich auf drei Säulen: Israel, Saudi-Arabien und Iran (damals unter dem Schah). Technisch gesehen befanden sie sich alle im Krieg, aber in Wirklichkeit war die Allianz sehr eng, insbesondere zwischen Israel und der mörderischen iranischen Tyrannei.
Innerhalb dieses internationalen Rahmens konnte Israel die Politik verfolgen, die heute fortbesteht, immer mit massiver Unterstützung der USA, trotz gelegentlicher Unmutsbekundungen. Das unmittelbare politische Ziel der israelischen Regierung ist es, ein “Großisrael” zu errichten, einschließlich eines stark erweiterten “Jerusalem”, das die umliegenden arabischen Dörfer einschließt; das Jordantal, einen großen Teil der Westbank mit einem Großteil ihres Ackerlandes; und größere Städte tief in der Westbank, zusammen mit rein jüdischen, israelisch integrierten, Infrastrukturprojekten. Das Projekt umgeht palästinensische Bevölkerungskonzentrationen wie Nablus, um zu verhindern, was israelische Führer als das gefürchtete “demographische Problem” bezeichnen: zu viele Nicht-Juden in dem geplanten “demokratischen jüdischen Staat”, “Großisrael” – ein Oxymoron, das mit jedem Jahr schwieriger auszusprechen ist. Die Palästinenser innerhalb von “Großisrael” sind in 165 Enklaven eingesperrt, von ihrem Land und ihren Olivenhainen durch ein feindliches Militär getrennt und ständigen Angriffen gewalttätiger jüdischer Gruppen (“hilltop youths”, zu deutsch “Hügeljugend”) ausgesetzt, die von der israelischen Armee geschützt werden.
In der Zwischenzeit besiedelte und annektierte Israel die Golanhöhen unter Verletzung der Anordnungen des UN-Sicherheitsrates (wie es auch in Jerusalem geschah). Die Schreckensgeschichte von Gaza ist zu komplex, um sie hier nachzuerzählen. Sie ist eines der schlimmsten Verbrechen der Gegenwart, eingehüllt in ein dichtes Netz von Täuschungen und Apologetik für Gräueltaten.
Trump ging über seine Vorgänger hinaus, indem er den israelischen Verbrechen freien Lauf ließ. Ein wichtiger Beitrag war die Orchestrierung des Abraham-Abkommens, das seit langem bestehende stillschweigende Vereinbarungen zwischen Israel und mehreren arabischen Diktaturen formalisierte. Das erleichterte die arabischen Beschränkungen für israelische Gewalt und Expansion.
Die Abkommen waren eine Schlüsselkomponente der geostrategischen Vision von Trump: der Aufbau einer reaktionären Allianz brutaler und repressiver Staaten, die von Washington aus gesteuert werden, darunter [Jair] Bolsonaros Brasilien, [Narendra] Modis Indien, [Viktor] Orbáns Ungarn und schließlich weitere Staaten wie diese. Die Nahost-Nordafrika-Komponente basiert auf El-Sisis abscheulicher ägyptischer Tyrannei, und jetzt im Rahmen des Abkommens auch auf Familiendiktaturen von Marokko über die VAE bis Bahrain. Israel stellt die militärischen Kräfte, mit den USA im unmittelbaren Hintergrund.
Das Abraham-Abkommen erfüllt ein weiteres Ziel von Trump: die wichtigsten Ressourcengebiete unter Washingtons Kontrolle zu bringen, die benötigt werden, um das Rennen in Richtung Umweltkatastrophe zu beschleunigen – die Sache, der sich Trump und seine Mitarbeiter mit beeindruckender Inbrunst verschrieben haben. Dazu gehört Marokko, das ein Beinahe-Monopol auf die Phosphate hat, die für die industrialisierte Landwirtschaft benötigt werden und die Böden zerstört und die Atmosphäre vergiftet. Um das marokkanische Beinahe-Monopol auszubauen, hat Trump Marokkos brutale und illegale Besetzung der Westsahara, die ebenfalls über Phosphatvorkommen verfügt, offiziell anerkannt und bekräftigt.
Es ist von gewissem Interesse, dass die Formalisierung dieser Allianz von einigen der gewalttätigsten, repressivsten und reaktionärsten Staaten der Welt in einem breiten Meinungsspektrum großen Beifall gefunden hat.
Bis jetzt hat Biden diese Programme übernommen. Er hat die grundlose Brutalität des Trumpismus zurückgenommen, wie z.B. den Entzug der fragilen Rettungsleine für Gaza, weil, wie Trump erklärte, die Palästinenser nicht dankbar genug für seine Zerstörung ihrer gerechten Bestrebungen gewesen seien. Ansonsten bleibt das kriminelle Konstrukt von Trump und Kushner intakt, obwohl einige Spezialisten für die Region denken, dass es mit den wiederholten israelischen Angriffen auf palästinensische Gläubige in der al-Aqsa-Moschee und anderen Manövern des effektiven Gewaltmonopols Israels wackeln könnte.
C.J. Polychroniou: Israels Siedlungen haben keine Rechtsgültigkeit, warum also leisten die USA weiterhin Hilfe für Israel unter Verletzung des US-Rechts, und warum konzentriert sich die progressive Gemeinschaft nicht auf diese Illegalität?
Noam Chomsky: Israel ist seit der Demonstration seiner Gewaltbereitschaft im Jahr 1967 ein hochgeschätzter Partner. Das Gesetz ist kein Hindernis. US-Regierungen hatten schon immer eine unbekümmerte Haltung gegenüber dem US-Recht und hielten sich an die übliche imperiale Praxis. Nehmen wir das wohl wichtigste Beispiel: Die US-Verfassung erklärt, dass Verträge, die von der US-Regierung abgeschlossen werden, das “oberste Gesetz des Landes” sind. Der wichtigste Nachkriegsvertrag ist die UN-Charta, die “die Androhung oder Anwendung von Gewalt” in internationalen Angelegenheiten verbietet (mit Ausnahmen, die in realen Fällen nicht relevant sind). Können Sie sich einen Präsidenten vorstellen, der diese Bestimmung des “obersten Gesetzes des Landes” nicht mit Nachdruck verletzt hat? Zum Beispiel, indem verkündet wird, dass alle Optionen offen sind, wenn der Iran den Befehlen der USA nicht gehorcht – ganz zu schweigen von solchen Lehrbuchbeispielen für das “oberste internationale Verbrechen” (das Urteil von Nürnberg) wie die Invasion des Irak.
Das beträchtliche israelische Atomwaffenarsenal sollte nach US-Recht ernsthafte Fragen über die Rechtmäßigkeit der militärischen und wirtschaftlichen Hilfe für Israel aufwerfen. Diese Schwierigkeit wird überwunden, indem seine Existenz nicht anerkannt wird, eine unverhohlene Farce, und eine höchst folgenreiche, wie wir an anderer Stelle diskutiert haben. Die US-Militärhilfe für Israel verstößt auch gegen das Leahy-Gesetz, das Militärhilfe für Einheiten verbietet, die an systematischen Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind. Die israelischen Streitkräfte stellen viele Kandidaten.
Die Kongressabgeordnete Betty McCollum hat die Führung bei der Verfolgung dieser Initiative übernommen. Sie weiterzuverfolgen sollte eine vorrangige Verpflichtung für diejenigen sein, die sich mit der US-Unterstützung für die schrecklichen israelischen Verbrechen gegen die Palästinenser beschäftigen. Selbst eine Bedrohung des riesigen Flusses an Hilfsleistungen könnte eine dramatische Wirkung haben.
Dieses Interview wurde zu Zwecken der besseren Verständlichkeit und bezügluch der Länge leicht von Truthout editiert.
Anmerkung: Dieser Bericht spiegelt nicht unbedingt die redaktionelle Haltung von acTVism Munich wieder.
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Noam Chomsky ist ein weltweit anerkannter politischer Dissident, Anarchist, Linguist, Autor und emeritierter Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er seit über einem halben Jahrhundert lehrt.
Chomsky hat mehr als 100 Bücher geschrieben, das jüngste unter dem Titel „Because We Say So“. Chomsky war währen seiner gesamten Karriere eine enorm einflussreiche akademische Persönlichkeit und wurde zwischen 1980 und 1992 öfter vom Arts and Humanities Citation Index (A&HCI) zitiert als jeder andere lebende Wissenschaftler.
Seine Arbeit hat eine Vielzahl von Bereichen beeinflusst, darunter Künstliche Intelligenz, Kognitionswissenschaft, Computerwissenschaft, Logik, Mathematik, Musiktheorie und #Analyse, Psychologie und Immunologie.
C.J. Polychroniou ist ein politischer Ökonom/Politikwissenschaftler, der an Universitäten und Forschungszentren in Europa und den Vereinigten Staaten gelehrt und gearbeitet hat. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Wirtschaftsintegration Europas, Globalisierung, die politische Ökonomie der Vereinigten Staaten und die Dekonstruktion des wirtschaftspolitischen Projekts des Neoliberalismus. Er schreibt regelmäßig für Truthout und ist ein Mitglied des Truthout Public Intellectual-Projekts. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht und seine Artikel sind in einer Vielzahl von Journalen, Magazinen, Zeitungen und Nachrichtenseiten erschienen. Viele seiner Veröffentlichungen wurden in mehrere Sprachen übersetzt, einschließlich kroatisch, französisch, griechisch, italienisch, portugiesisch, spanisch und türkisch.
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